„Gerade um die Ecke des Eingangs zum Kunstpalast, zart angelehnt an die Natursteinfassade steht die “Leiter” von Gunnar Krabbe. Eine schlichte Holzleiter, der traditionellen bäuerlichen Bauweise nachempfunden, endet irgendwo auf dem oberen Drittel der Gebäudewand. Ewig nah sind sich Versuchung und Gefahr, liegen hier verheißungsvoller Ausblick und angsteinflößende Höhe dicht beieinander. Im günstigen Augenblick verwandelt sich die Leiter zur Sonnenuhr, zu einem Schattenzeichner. Das natürliche Licht und die vergehende Zeit, treiben ein mählich sich wandelndes Raster über die Steinfläche.“
Axel Kreiser 2021
Leiter 2021
Skulptur am Kunstpalast Ehrenhof, DIE GROSSE 20/21 Kunstausstellung NRW in Düsseldorf
Maße: 1300 x 58 x 14 cm
Material: Fichtenholz, Holzleim
Die Entstehung einer Skulptur bewegt sich für mich oft zwischen „Greifen und Denken“. Die Leiter ist die urbildliche Steighilfe und meine „Leiter“ ist der Versuch einer Form für diese Steighilfe. Ich steige seit vielen Jahren auf eine Leiter, um alte Obstbäume auf einer Streuobstwiese zu schneiden. Meine Erfahrung als Bergsteiger und ehemaliger Kletterer könnte auch eine Rolle für diese Idee spielen, was die Fortbewegungen Steigen und Klettern betrifft. Aber es sind weniger die körperlichen Erfahrungen beim Steigen auf Leitern oder beim Fels-Klettern, sondern vielmehr erinnerte Bilder von Leitern in Kunst, im Film, oder in mythologischen Überlieferungen, die mir die Idee zur „Leiter“ gaben. Die symbolischen Bedeutungen von der Leiter in den unterschiedlichen Kulturen der Erde sind die wesentlichen Einflüsse gewesen. Ich nenne hier Beispiele:
Ein Buch mit Aby Warburgs Vortrag von 1923 „Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer“ über seine Reise 1895/96 nach New Mexico und Arizona bekam ich 2019 in die Hände und machte mich unter anderem auf die Pueblo-Architektur der Hopi, Nachfahren der Anasazi-Kultur, aufmerksam. Der religiöse unterirdische Raum der Hopi, Kiva genannt, welcher mit einer Zugangsleiter erreicht wird, weckte meine Neugier.
Die gleichzeitige praktische und symbolische Bedeutung der Leiter ist hier eine eindringliche Verknüpfung. Eine einfach gezimmerte Holzleiter verbindet hier die gegenwärtige Welt mit der Unterwelt der Ahnen. Manche Kiva-Leitern wurden mit Wolkenmotiven versehen. Warburg entdeckte auf seiner Reise kosmologische Zackenornamente der Indigenen in einer Kirche und schreibt sie der Symbolisierung einer Treppe zu und entdeckt vor Ort an einem Kornspeicher die urtümliche Form einer Treppe, die aus einem Stamm geschnitten wird, mit Kerbschnitten im Stamm, wie man sie auch bei den Dogon in Mali findet.
Warburg beschreibt: „Stufe und Leiter sind für den, der das Werden, das Auf und Nieder in der Natur versinnbildlichen will, die Urerfahrung der Menschheit. Sie sind das Symbol für das erkämpfte Auf und Nieder im Raum, wie der Kreis – die geringelte Schlange – das Symbol für den Rhythmus der Zeit ist. …“ Die Schriften des Kulturwissenschaftler Aby Warburg bestärkten mich in dem Bewusstsein, die Entwicklung der eigenen Skulpturen in der Spannung von „Magie und Vernunft“ zu sehen, in dem Pendeln zwischen dem Beschwören einer Bildidee und den klaren durchdachten Schritten zur endgültigen Form.
Selbstverständlich kommt mir auch die Jakobsleiter in den Sinn, Jakob`s Traum von einer Himmelsleiter in „Das erste Buch Mose“. Bei dem Begriff Jakobsleiter stelle ich vielmehr eine sinnliche Verbindung zu der Musik „Les Rêves de Jacob“ von Darius Milhaud her, als zur ursprünglichen Quelle in den Bibelversen.
Ich erinnere eine beeindruckende Leiter-Skulptur von dem amerikanischen Bildhauer Martin Puryear, eine Himmelsleiter, die den Boden nicht berührt, und ich erinnere auch eine ineinander verschränkte Doppelleiter von Rainer Ruthenbeck. Zwei unterschiedliche skulpturale Herangehensweisen.
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Entscheidend für die fassbare Gestaltung meiner Leiter-Idee war einerseits, die räumlich-architektonische Situation im Lichthof des Kunstpalastes und andererseits, wie ich eine ungewöhnlich lange Leiter am Gebäude im Verhältnis zu meinem eigenen Körper empfinde. Nach Sichtung eines abgestorbenen Fichten-Waldes zwischen Düsseldorf und Wuppertal, ergab sich für mich eine machbare Leiter-Länge von circa 13 Meter. Für die Anfertigung musste ich im Wald auch die Proportion von Stammdurchmesser zur Stammlänge berücksichtigen. Eine überlange Leiter-Skulptur musste am Stamm-Fuß deutlich kräftiger sein, als zum Beispiel eine reguläre Holzleiter.
Ein geführtes Rücke-Pferd war eine willkommene Hilfe, den gefällten Stamm aus dem Wald zu ziehen, sowie der Transport mit einem LKW für circa 20 Kilometer nach Düsseldorf. Ich konnte den auf dem Boden liegenden Stamm gerade noch für die Zimmermannsarbeiten mit eigener Körperkraft drehen und ziehen. Die Längst-Teilung des Leiterbaumes und alle Nut- und Zapfarbeiten für die Sprossen konnte ich selbst ausführen. Das schlussendliche Verleimen der Sprossen zwischen den Leiterholmen gelang mit drei Personen.
Für Skulpturen verwende ich gerne die alte Maßeinheit von einem Fuß mit 33 cm. Der Holmabstand ist 1 1/3 Fuß, also 44 cm und der Sprossenabstand ist genau 1 Fuß. Das Fuß-Maß bezeichnet ein Schrittmaß und nicht die Länge eines Fußes. Nach der Teilung des Stammes in die zwei Holme, entschied ich, Sprossen mit einem rechteckigen Querschnitt zu verbauen.
Für die Leiter-Skulptur ist die Materialwahl denkwürdig. Ich wählte einen vom Fichten-Borkenkäfer, Ips Typographus, geschädigten Stamm, der abgestorben ist. Der als Buchdrucker bezeichnete Käfer drang in die Rinde ein, weil die Fichten an dem gewählten Standort und auch in anderen Wäldern durch die beiden Hitzesommer 2018 und 2019 stark vorgeschädigt sind. Die Fichten können sich mit Harz nicht mehr gegen die Borkenkäfer wehren. Die Fichten-Monokulturen sind an vielen Standorten in Deutschland dem Klimawandel nicht gewachsen.
Meine Recherche zum Buchdrucker ergab, dass es historische und zeitgenössische Einträge gibt, bei denen die Larvengänge des Fichten-Borkenkäfers mit arabischen Schriftzeichen verglichen werden. Der Vergleich mit „Arabischen Schriftzeichen“ (Internet-Lexika) oder „sonderbar gestalteten Buchstaben der Morgenländer“ (Brockhaus 1837) ist, wenn man sich die Gänge genauer anschaut, erfunden. Liegt es vielleicht daran, dass die Autoren arabische Schriftzeichen nicht lesen können oder wollen und vielleicht denken, dass der Schädling aus dem Morgenland kommt!?
Der Ethnologe Felix antwortete auf meine Anfrage zu diesem Vergleich: „Von einem Brockhaus aus dem 19. Jh. kann man etwas Exotismus und Kulturchauvinismus (hier: “sonderbare Schriftzeichen”) befürchten. Von Rassismus würde ich noch nicht sprechen, da weder Naturalisierung noch Herrschaft enthalten sind. Solche Fremdheit kann beidseitig kommuniziert werden, problematisch wird es meines Erachtens vor allem dann, wenn damit Herrschaft oder Unrecht begründet wird.“ Ein Vergleich zu Buchdruck als Drucktechnik ist gegeben, da der Borkenkäfer tiefdruckartige Spuren auf dem Splintholz und der Rinden-Innenseite des Stammes verursacht. Andere Quellen sagen, dass die Gänge des Buchdruckers zeilenförmig verlaufen. Das sehe ich nicht eindeutig auf den rindenlosen Stämmen.
Auf eine Leiter zu steigen ist vielleicht der einfachste Weg in die Vertikale und hier mit dem Gleichgewicht umgehen zu müssen. Auf einer Leiter, egal welche, werde ich achtsamer, als beim Gehen auf dem flachen Erdboden. Sie ermöglicht auf einfache Weise von der Erde aus etwas Erhöhtes zu erreichen. Das Steigen auf eine Leiter zwingt zu einer unmittelbaren und direkten Hirn-Hand oder Körper-Kopf Koordination. Intuitiv greifen wir die nächste Sprosse und steigen mit einem Fuß höher. Aber diese „Leiter“ verunsichert, denn es besteht keine Notwendigkeit auf ihr hochzusteigen.
Die Sprossen-Leiter als Skulptur wird unausweichlich zum Bild für die Seele mit ihren unterschiedlichen Geisteszuständen und innerweltlichen Verfassungen. Vielleicht mahnt sie, sich nicht der Selbstüberschätzung hinzugeben und heftige Gefühlsäußerungen zu kontrollieren.
Meine überlange „Leiter“ erreicht nicht die Traufe oder Dachfläche des monumentalen Gebäudes mit ihren mächtigen Naturstein- und Ziegelsteinfassaden. Sie ermöglicht hier keinen unerlaubten Zugang zum Kunstpalast, einen Speicher für Kunst, aber sie verändert als skulpturales Ereignis den Blick auf die Raumsituation des Lichthofes. Die natürliche Verwerfung/Drehung der beiden Holme aus einem geteilten Stamm zeigt vielleicht noch das Wachsen des Nadel-Baumes zum Licht. Wirft das schräge Beiwerk „Leiter“ mit jeder Sprosse Fragen auf? Stellt sich überhaupt eine Frage nach Bedeutung und ist und bleibt die „Leiter“ einfach eine Leiter?
Gunnar Krabbe 2021